In Herne und Bochum können Stadtkinder draußen in der Natur spielen – eigenständig, frei und unreglementiert. Denn hier wurde die „Wildnis für Kinder“ reserviert, und das mit politischer Unterstützung von ganz oben. Eine tolle Idee, die unbedingt Schule machen sollte. Auch wenn dafür noch einige Hürden zu nehmen sind, wie ich von Jürgen Heuser, Initiator des Projektes, erfuhr. 

Herr Heuser, warum haben als Leiter der Biologischen Station Östliches Ruhrgebiet das Projekt „Wildnis für Kinder“ ins Leben gerufen?

Heuser: Nun ja, beim Blick in meine eigene Biografie und in Gesprächen mit Kollegen anderer Biostationen, wurde mir schnell klar: Menschen wie wir, denen die Natur etwas bedeutet und die sich für deren Erhalt einsetzen, das sind alles Menschen, die in ihrer Kindheit ausgeprägte Naturkontakte hatten.

Und da es auch bei uns in Zukunft unbedingt Menschen geben muss, die sich für den Naturschutz engagieren, wollten wir Stadt-Kindern Naturflächen zur Verfügung stellen, auf denen sie nach Herzenslust und ohne Vorgaben spielen und die Natur erfahren können: auf Bäume klettern, im Gras herumtollen, Insekten beobachten, rummatschen, sich in Büschen verstecken, Budenbauen, usw.. Dass es dabei nicht nur um Naturschutz geht, sondern auch um die Förderung motorischer, psychischer und sozialer Kompetenzen von Kindern, wurde mir erst später bewusst.

Jedenfalls freut es mich sehr, dass wir vor fünf Jahren den ersten Naturerfahrungsraum in Herne eröffnen konnten, mittlerweile können Kinder insgesamt auf sechs Naturerfahrungsräume in Herne und Bochum draußen spielen und die Wildnis entdecken.

Wie sehen diese Naturerfahrungsräume aus?

Die Flächen sind alle zwischen ein und zwei Hektar groß, manche auch größer. Eine ausreichende Größe ist ganz entscheidend. Denn nur so können Kinder unbeobachtet spielen, vollkommen in die Natur eintauchen und alles andere ausblenden.

Foto: Wildnis für Kinder
Matschen erwünscht! Foto: Wildnis für Kinder

Grundsätzlich ist auf allen Naturflächen ein Mix an waldartigen und offenen Strukturen vorhanden. In Einzelfällen haben wir einfache Gestaltungsmaßnahmen durchgeführt, um die Attraktivität des Geländes für die Kinder zu erhöhen. Auf ebenen Flächen wurden Hügel angelegt, zugewachsene Passagen (z. B. wuchernde Brombeeren) und Wege wurden freigelegt und Hecken gepflanzt. Auf einer Fläche wurde sogar eine Matschzone eingerichtet, die bei feuchtem Wetter noch mal andere Anreize bietet.

Sicherungsmaßnahmen wurden ebenfalls durchgeführt. So haben wir Gefahrenholzentfernen lassen, Kletterbäume aufgeastet, damit sie sich gut und sicher beklettern lassen, und am Rande einer der Flächen wurde ein Zaun zur Sicherung gegen eine Bahntrasse gezogen.

Wie viele Kinder erobern denn mittlerweile die Wildnis in Herne und Bochum?

Leider erkunden immer noch eher wenige Kinder auf eigene Faust die Natur, muss ich sagen. Wir können das an den Nutzungsspuren sehen: umgeknickte Zweige, heruntergetretenes Gras, zusammengesammelte Äste, etc. Oder wir erkennen es am Müll, den Kinder manchmal hinterlassen. Wenn die Häufigkeit zunimmt, wurde im Gelände wieder mehr gespielt.

Nur ein Hinweisschild weist auf die für Kinder reservierten Flächen hin. Foto: Wildnis für Kinder
Ein Hinweisschild weist auf die für Kinder reservierten Flächen hin. Foto: Wildnis für Kinder

Es zeigt sich übrigens, dass auf den Flächen die meisten Kinder draußen spielen, die direkt an die Grundstücke von Wohngebäuden anschließen. Obwohl wir bei der Auswahl darauf geachtet haben, dass alle Flächen in Quartiersnähe liegen, sind 300 Meter Entfernung auf dem Papier zwar nah, aber heute schon viel, was das Sicherheitsdenken der Eltern betrifft. Es gibt leider viele Eltern, die sagen: „Da lasse ich meine Kinder nicht alleine drauf.“

Was befürchten Eltern, die ihre Kinder nicht alleine in die Natur lassen?

Der Aspekt Sexualstraftäter spielt hier bis weilen eine Rolle. Was sehr bedauerlich ist. Denn wie wir durch die enge Vernetzung und Beratung durch die Präventionsstelle Bochum wissen, passieren sexuelle Übergriffe durch Fremde sehr selten und sind statistisch gesehen rückläufig. Aber sie werden von der Öffentlichkeit nicht als rückläufig wahrgenommen, weil die Medien über jeden einzelnen Fall ausführlich berichten.

Deshalb ist es wichtig, dass gut informiert wird und dass Öffentlichkeitsarbeit stattfindet. Auch wir müssen hier nachbessern und die Eltern noch gezielter informieren und ermutigen, ihre Kinder ohne Aufsicht, aber dann immer als Gruppe, in der Natur draußen spielen zu lassen.

Wissen Kinder denn überhaupt noch etwas mit den Naturflächen anzufangen? Forscher sprechen ja bereits von einer „Natur-Entfremdung“ unter Kindern.

Im Idealfall sollen sich die Kinder ja ganz alleine nach ihren Vorstellungen und in ihrem Rhythmus die Fläche aneignen. Das funktioniert nur teilweise, weil viele Kinder am Anfang unsicher sind und tatsächlich nichts mit der Naturumgebung anzufangen wissen. Wir hatten zum Beispiel zwischen den Sommer- und den Herbstferien sechs Wochen lang auf allen Flächen Impulsveranstaltungen. Da hat es teilweise drei bis vier Nachmittage gebraucht, bis sich die Kinder das erste Mal getraut haben, alleine in die Natur auszustromern. Insofern beobachten wir schon eine hohe Natur-Entfremdung unter Kindern. Sind diese Anlaufschwierigkeiten jedoch erst mal überwunden, ist das Feedback der Kinder durchgehend positiv.

Wie gelingt es, mehr Kinder mit der Natur vertraut zu machen?

Wir wollen in Zukunft noch enger mit dem Offenen Ganztag in den Schulen zusammenarbeiten. Dort treffen wir auf unsere anvisierte Zielgruppe der 8-13-Jährigen. Deshalb versuchen wir immer wieder Gelder zu akquirieren, um noch mehr Impulsveranstaltungen durchzuführen und die Naturflächen noch bekannter zu machen. Dabei muss es uns noch besser gelingen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn wir Eltern und die Betreuer in den Schulen ausführlich informieren, gelingt es, Barrieren in den Köpfen abzubauen und mehr Draußenspiel zu ermöglichen.

In Zusammenarbeit mit Schulen sollen noch mehr Kinder für die Flächen begeistert werden. Foto: Wildnis für Kinder
„Wildnis für Kinder“ arbeitet eng mit Schulen zusammen, um die Naturflächen noch bekannter zu machen. Foto: Wildnis für Kinder

Wir sind auch in vielen Netzwerken engagiert, so auch im Arbeitskreis Draußenkinder, um die Botschaft zu transportieren, wie wichtig es für Kinder ist, in ihrer Freizeit selbstständig und eigenständig in der Natur spielen zu können.

Es ist sehr beachtlich, dass alle Flächen offiziell als Vorrangfläche für Naturerfahrungen für Kinder festgesetzt worden sind. Wie kam es zu diesem politischen Erfolg?

Ganz zu Beginn half ein bisschen der Zufall. Bereits vor ca. 13 Jahren hatte ich kurzentschlossen meine Projekt-Idee auf einer Zukunftswerkstatt in Herne vorgestellt. Damals gab es kaum mehr als eine Vision und den Projektnamen „Wildnis für Kinder“, den ich dafür spontan kreiert hatte. Die Idee ist damals sehr gut angekommen und da diese Zukunftswerkstatt in einem Begleitheft verschriftlicht wurde, bin ich damit bekannt geworden und auch der Projektname „Wildnis für Kinder“ hat sich etabliert.

Bis zur ersten eröffneten Fläche in Herne hat es aber trotzdem viele Jahre gedauert…

Das ist wahr. Im Anschluss an die Zukunftswerkstatt gab es zwar erste Planungstreffen und die Pilotfläche – eine alte Industriebrache direkt neben unserer Biologischen Station – wurde gesichert. Ein wichtiger Schritt. Aber insgesamt verlief das Ganze wieder im Sande. Die finanziellen Mittel reichten damals einfach nicht aus.

Die erste eröffnete Naturfläche in Herne liegt direkt neben der Biologischen Station. Foto: Wildnis für Kinder
Die erste eröffnete Naturfläche in Herne liegt direkt neben der Biologischen Station. Foto: Wildnis für Kinder

Deshalb habe ich versucht, Drittmittel zu generieren. Und weil gleichzeitig die Nordrhein-Westfalen Stiftung auf mich zukam, die meine Idee gut fand, schienen die Dinge dann endlich zusammenzulaufen. So konnten wir gemeinsam vor fünf Jahren den ersten Naturerfahrungsraum in Herne eröffnen. Insgesamt gibt es mittlerweile vier Flächen in Herne, zwei davon betreuen wir als Biologische Station. Für die meisten Flächen, auch die in Bochum, hat die NRW-Stiftung die PR, das Konzept und die gestalterischen Maßnahmen an den Flächen finanziert. Die Unterhaltsmaßnahmen organisieren die Städte Herne und Bochum. Und wir fungieren als Kümmerer. Das heißt, wir haben die Anträge für Fördergelder geschrieben, die Kooperationsverträge mit der Stadt gemacht, die Ausschreibung für die Gestaltungsmaßnahmen erarbeitet. Und wir reagieren, wenn spontan was zu tun ist, sei es Müll entsorgen oder eine Schnittmaßnahme. Unsere Erfahrung zeigt, so funktioniert das Zusammenspiel.

In Bochum hat ihr Projekt sogar Rückenwind vom Oberbürgermeister persönlich…

Ein Mix aus Wald und offene Flächen. Foto: Wildnis für Kinder
Auch in Bochum Westenfeld gibt es den Mix aus Wald und offene Flächen. Foto: Wildnis für Kinder

Ja, das war großes Glück für das Projekt und ergab sich auch eher durch einen Zufall. Wir hatten vor zwei, drei Jahren in der Biologischen Station Besuch von Bochumer Landtagsabgeordneten. Denen habe ich erzählt, was wir so machen, unter anderem natürlich auch vom Projekt „Wildnis für Kinder“. Dem damaligen Abgeordneten Thomas Eiskirch gefiel das so gut, dass er das unbedingt auch in Bochum realisieren wollte, und zwar gleich sechs Mal – für jeden Stadtbezirk in Bochum einen Naturerfahrungsraum. Also haben wir uns an die Arbeit gemacht. Vier der sechs ausgesuchten Flächen sind bereits eröffnet. Und Herr Eiskirch ist seit kurzem Oberbürgermeister in Bochum. Das Thema ist also nun politisch ganz oben angekommen.

Wie kann es gelingen, bundesweit mehr Naturerfahrungsräume einzurichten?

Ich denke, die Kommunen müssen sich überlegen, wollen wir so etwas mittragen oder nicht. Denn ihnen gehören die Flächen. Und da kommen wir zu dem Aspekt der Verkehrssicherung und Haftung. Das ist immer wieder ein großes Thema, weil die rechtliche Situation eher unklar ist und Städte unterschiedlich damit umgehen.

Während die Bedenken in Herne relativ gering waren, gab es in Bochum eine sehr intensive Diskussion darum, die auch bis ins Rechtsamt reingetragen wurde. Es galt den Status solcher Naturflächen zu definieren, um dann daran den Kontrollaufwand und die Haftungsrisiken festzulegen. Die große Frage war: Wenn in Bochum die Kinder aktiv auf die Flächen geholt werden, sind diese dann nicht mehr nur öffentliche Grünflächen, sondern haben diese dann den Status von Spielplätzen und müssen entsprechend gesichert und kontrolliert werden? An dieser Frage wäre das Projekt fast gescheitert, aber zum Glück haben die beteiligten Ämter in Bochum (Umwelt- und Grünflächenamt, Jugendamt und technischer Betrieb) trotz unsicherer Rechtslage einen praktikablen Weg gefunden.

Welche Sicherheitsvorschriften gelten in einem Naturerfahrungsraum?

Da hole ich etwas weiter aus. Dr. Hans-Joachim Schemel, der den Begriff der Naturerfahrungsräume definiert und geprägt hat, geht davon aus, dass es in Naturerfahrungsräumen kein zusätzliches Haftungsrisiko wie auf Spielplätzen geben kann. Dabei geht es um den Begriff der „versteckten Gefahren“. Wenn auf einem Spielplatz zum Beispiel eine tragende Konstruktion bricht, weil Baumstämme morsch sind und das bei Kontrollen übersehen worden ist, steht der Betreiber selbstverständlich in der Haftung, weil er diese „versteckte Gefahr“ nicht beseitigt hat. Solche Gefahren gibt es jedoch in der Natur nicht.

In Berlin, wo die Möglichkeiten zur Einrichtung solcher Naturerfahrungsräume im öffentlichen Raum erprobt und evaluiert wurden, hat man einen zusätzlichen Passus ins Naturschutzgesetz mit aufgenommen. Sinngemäß besteht danach die Benutzung von Naturerfahrungsräumen auf eigene Gefahr, und es besteht keine Haftung für typische sich aus der Natur und dem Spiel ergebene Gefahren. Dieser Passus vereinfacht vieles. Wir versuchen gerade in NRW Vergleichbares im neuen Landesnaturschutzgesetz zu implementieren und sind mit Politikern aus verschiedenen Arbeitskreisen vernetzt. Bisher stoßen wir durchaus auf Wohlwollen.

Ich würde mich freuen, wenn uns das gelingt, weil damit die Voraussetzungen für die Städte erheblich erleichtert wären und sicher mehr Naturerfahrungsräume für Kinder geschaffen werden könnten.

Vielen Dank, Herr Heuser, für dieses interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit Ihrem Projekt!


 

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Jürgen Heuser ist wissenschaftlicher Leiter der Biologischen Station Östliches Ruhrgebiet und hat selbst vor 13 Jahren das Erfolgsprojekt „Wildnis für Kinder“ initiiert. Ziel des Projektes ist es, Naturerfahrungsräume speziell für Kinder zu sichern und einzurichten und ihnen somit die Möglichkeit zu geben, Natur auch in Städten selbstbestimmt und unreglementiert zu erfahren.