Die südhessische Stadt Griesheim, mit ihren 26.000 Einwohnern, darf sich seit September 2009 „erste bespielbare Stadt Deutschlands“ nennen. Doch was genau heißt das eigentlich, eine „bespielbare Stadt“ zu sein? Dazu haben wir Professor Bernhard Meyer, Mitinitiator des Projektes „Bespielbare Stadt“, befragt.

Herr Professor Meyer, von Ihnen stammt die Idee, Griesheim „bespielbar“ zu machen. Was genau können wir uns darunter vorstellen?

Prof. Meyer: Auf einer Strecke von etwa 25 Kilometern mitten in Griesheim haben wir auf den Fußwegen nach Flächen gesucht, die neben dem eigentlichen Gehweg, Raum zum Spielen geben. Letztendlich konnten an 101 Stellen Objekte im Straßenraum aufgestellt werden – Punkte im Pflaster, blaue Hüpfer-Kästchen, Balken, Kletterfindlinge, kleine Dreh-Elemente usw. – die verschiedenste Spielmöglichkeiten bieten.

Große Findlinge laden zum Klettern ein. Foto: Prof. Meyer
Auf diesen Dreh-Elementen können Kinder ihren Gleichgewichtssinn testen. Foto: Prof. Meyer

Ein wichtiger Vorteil: Diese Spielobjekte werden auch von Autofahrern gesehen. Dadurch bekommen sie immer wieder das Signal, in Griesheim gibt es auch Kinder in den Straßen. Das ist wirkungsvoller als zum Beispiel ein Spielstraßenschild.

Spielstraßenschild
Eine Spielstraße steht den Kindern nicht dauerhaft zur Verfügung, sondern nur auf Zeit. Gekennzeichnet durch das Spielstraßen-Schild. Foto: Prof. Meyer

Nach welchen Kriterien wurden die 25 km Spielstrecke und die Spielobjekte ausgewählt?

Mit Hilfe von 1036 Griesheimer Grundschulkindern wurden die Wege ermittelt, die mehr als fünf Kinder nutzen, um zur Schule, zum Spielplatz, zum Einkaufen, zum Sport, usw. zu gelangen.

Nachdem feststand, dass 101 Flächen an diesen Wegen eingerichtet werden konnten, das waren mehr als ich dachte, haben wir alle Kataloge nach geeigneten Objekten durchgesehen. Geeignet hieß, sie sollten vor allem ein Merkmal haben, nämlich nicht eindeutig sein, also „definitionsoffen“. Jeder sollte die Spielobjekte zu dem machen können, was gerade angesagt ist: etwas zum Klettern, Hüpfen, Sitzen und vieles mehr.

Bunte Hüpfe-Kästchen einfach auf den Fußweg gemalt. Foto: Prof. Meyer

Es gibt Objekte, die an anderen Stellen wiederkehren. Wichtig war aber auch, dass 20 Prozent davon Unikate sind, die in der Stadt nur einmal vorkommen und damit einen unverwechselbaren Punkt darstellen.

Was war der Auslöser für Ihr Konzept der bespielbaren Stadt und was macht es so besonders?

Kinder kommen im öffentlichen Raum immer weniger vor. Ohne Urteil hat ein allmählicher Freiheitsentzug stattgefunden. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Spielplätze zu isolierten Kinderinseln. Dazwischen regeln Elterntaxis den Transfer. Auch die Rushhour vor Kindergärten und Schulen zeigt auf, dass sich immer weniger Kinder zu Fuß durch die Stadt bewegen. „Generation Rücksitz” werden sie bereits genannt. Mit diesem Phänomen beschäftige ich mich schon seit Jahren und versuche die passenden Konzepte zu entwickeln, um dagegen zu wirken.


Prof. Meyer
Prof. Meyer

Professor Bernhard Meyer arbeitet an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt und beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Spielräumen für Kinder und Jugendliche. In Griesheim konnte das Projekt „bespielbare Stadt“ umgesetzt werden, weil sich die Stadt gegen 119 Bewerber durchsetzte und den mit 15.000 Euro dotierten Preis der Stiftung „Lebendige Stadt“ gewann. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass es der Stadt gelungen sei, mit einfachen Mitteln Kinder zum Spielen einzuladen.


Das Besondere an unserem Konzept „bespielbare Stadt“ ist nun, dass öffentlicher Raum zurückerobert wurde und, wie oben beschrieben, auch außerhalb von Spielplätzen – in ganz normalen Straßen – sichtbar wird, dass man hier auch mit Kindern rechnen muss.

Gab es Bedenken, Griesheim in eine bespielbare Stadt umzuwandeln?

Ältere Menschen erzählen heute noch von Qualitäten, die Straßen in ihrer Kindheit hatten. Allmählich sind die jedoch verschwunden. Heute sind Menschen eher auf die Erkennung von Gefahren trainiert als darauf, Möglichkeiten zu sehen. Deshalb scheiterte die Umsetzung des Konzeptes bisher immer an einer Reihe von Bedenkenträgern. Das ist schade. Denn Risiken können auch produktiv sein. Und das versuchen wir mit dem Projekt erfahrbar zu machen.

Ich erinnere mich, bereits 1984 habe ich auf einer Tagung in München zum ersten Mal einen Vortrag dazu gehalten, mit dem Titel: „Spielen kann man überall.“ Seitdem haben einige Städte angefangen, das Konzept umzusetzen – vor allem in Fußgängerzonen – aber dann war immer Schluss. Erst  jetzt, 25 Jahre später, fand sich in Griesheim mit Norbert Leber ein Bürgermeister, der bereit war, das Projekt tatsächlich konsequent umzusetzen und eben auch den Straßenraum mit einzubeziehen.

Was können Städte tun, die dem Beispiel von Griesheim folgen wollen?

Die Verantwortlichen in den Städten sollten mit Hilfe von Kindern und fachlicher Begleitung einen Spielraumentwicklungsplan erstellen und diesen dann konsequent umsetzen.


Hier findest du mehr Informationen zum Projekt „Bespielbare Stadt“ in Griesheim.


Fachliteratur zum Thema:
Bernhard Meyer: Die bespielbare Stadt – Die Rückgewinnung des öffentlichen Raumes, Aachen 2009 (Shaker) 14,80€ (inklusive Karte)


Vielen Dank, Herr Professor Meyer, für dieses interessante Interview. Es ist toll, welche Möglichkeiten es gibt, wenn sich Leute trauen, neue Wege zu gehen. Wir hoffen, andere Städte folgen Griesheim, so dass Ihr Konzept noch vielen anderen Stadtkindern ein Stück Freiheit zurückgeben kann.