Inklusive Spielplätze sind derzeit auf dem Vormarsch. Denn alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, sollen gemeinsam spielen können. Doch tun sie es auch? Und wie muss ein inklusiver Spielplatz gestaltet sein, damit alle ihren Spaß haben? Prof. Dr. Schulze forscht in der Schweiz intensiv zu diesem Thema.
Frau Prof. Dr. Schulze, für Ihr Forschungsprojekt „Spielplatz: Ort der Begegnung für alle?“ haben Sie 30 Kinder mit und ohne Behinderungen auf sechs hindernisfreien Spielplätzen in der Schweiz beobachtet. Was haben Sie herausgefunden?
Prof. Dr. Schulze: Zunächst einmal war für uns überraschend, dass wir überhaupt keine Kinder mit Beeinträchtigungen auf den ausgewählten hindernisfreien Spielplätzen angetroffen haben. Fündig wurden wir schließlich auf öffentlichen Spielplätzen, die an Sonderschulen angegliedert waren und von Regelschulkindern sowie von Kindern aus der Umgebung genutzt wurden. Doch wir beobachteten, dass die Kinder mit und ohne Einschränkungen in der Regel überhaupt nicht miteinander spielten.
Prof. Dr. Christina Schulze ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Department Gesundheit. Von Beruf aus Ergotherapeutin arbeitet sie mit Kindern mit verschiedenen Entwicklungsverzögerungen und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit der Forschung und Entwicklung der Ergotherapie. Das Projekt „Spielplatz: Ort der Begegnung für alle?“ wurde im Rahmen des EU-Forschungsprogramms COST Action TD1309: Play for Children with Disabilities (LUDI) entwickelt und in ähnlicher Form auch in Irland durchgeführt.
Lag es an den Spielplätzen, dass es keinen Austausch gab?
Die Stiftung „Denk an mich“ in der Schweiz, auf deren Spielplätzen wir unterwegs waren, hat sich finanziell sehr dafür eingesetzt, Gemeinden dabei zu unterstützen, Spielplätze hindernisfrei zu gestalten. Also Spielplätze für alle zugänglich zu machen und bei einem Teil der Spielgeräte darauf zu achten, dass diese vielfältig nutzbar sind. Daher würde ich sagen, waren die Voraussetzungen für gemeinsames Spiel auf diesen hindernisfreien Spielplätzen vorhanden.
Wollten die Kinder vielleicht gar keinen Kontakt untereinander?
Wir spielen hier – die spielen dort. Die wollen nicht mit uns befreundet sein und das ist das Problem.
Eines der interviewten Kinder
Wir waren meistens einen Nachmittag oder einen ganzen Tag auf dem Spielplatz, haben das Spiel von 30 Kindern (mit und ohne Beeinträchtigungen) beobachtet und die Kinder anschließend gefragt, ob wir sie interviewen dürfen. 30 Kinder sind natürlich nicht viele. Daher bewerten wir ihre Antworten auch eher als Einzelstimmen, aus denen wir keine verallgemeinernden Schlüsse ziehen. Aber immerhin haben drei Kinder mit Beeinträchtigungen gesagt: „Wir spielen hier – die spielen dort. Die wollen nicht mit uns befreundet sein und das ist das Problem.“
Müssen alle immer miteinander befreundet sein?
Wenn Menschen sich nicht anfreunden, weil sie sich nicht mögen, dann ist das so – auch bei Kindern. Keinesfalls sollte jedoch das Separierungskriterium die Behinderung sein. Wenn Menschen Andersartigkeit nicht aushalten oder in Werten denken wie „Ah, der ist behindert…“ dann ist das, aus meiner Sicht, problematisch. Und zwar vor allem eines in den Köpfen. Ich glaube, hindernisfrei ist das eine, aber die Barrieren oder Hindernisse, die wir in den Köpfen haben, die müssen sich erst nach und nach auflösen. Deshalb geht es uns in erster Linie um Sensibilisierung. Wir hoffen, dass sich möglicherweise die gedanklichen Vorurteile auflösen, wenn man im Spiel miteinander was erlebt.
Manchmal war das „Miteinander“ von außen gar nicht so offensichtlich, wie Sie mir erzählt haben…
Tatsächlich. Selbst wir waren überrascht, wie stark sich manchmal auch unsere Wahrnehmung von denen der Kinder unterschied. Ein Junge mit Mobilitätseinschränkung spielte beispielsweise unten alleine an einem Baum. Oben auf dem Baum spielten zwei weitere Kinder. Unsere Vorstellung war: Der Jungen fühlt sich bestimmt ausgegrenzt, weil er auf Grund seiner körperlichen Einschränkung nicht mitmachen kann. Als wir ihn hinterher zum Spiel befragten, erzählte er uns munter und vergnügt: „Wir sind da geklettert und das war total lustig.“ Der Jung hat die Situation so beschrieben, als ob er mit seinen Freunden gemeinsam klettern war. Entgegen unserer Erwartungen hatte er offensichtlich gar nicht das Gefühl, ausgegrenzt worden zu sein.
Genauer hinsehen, hinhören, die Sichtweisen der Kinder mehr in den Blick nehmen – so kann es funktionieren?
Unbedingt. Beobachtung lässt sehr viel Interpretationsspielraum. Wir wissen nicht, welche Bedeutung bestimmte Spielaktivitäten haben, wie sich die Kinder in so manchen Situationen fühlen und was sie sich wünschen. Das hat uns zu der Erkenntnis geführt hat, wie wichtig es ist, diese Stimmen der Kinder für die Spielplatzplanung und -gestaltung unbedingt mit abzuholen. Die wissen einfach mehr über ihre Wünsche an einen Spielplatz als wir.
Welche Wünsche hatten die von Ihnen befragten Kinder an einen Spielplatz?
Ganz wichtig: Kinder möchten dabei sein. Daher ist der hindernisfreie Zugang zu einem Spielplatz eine sehr entscheidende Voraussetzung für gemeinsames Spiel. Alle Kinder wünschen sich Herausforderungen. Sie wollen ausprobieren, was sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten hinkriegen – das gilt für Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen gleichermaßen. Ein Kind im Rollstuhl hat beispielsweise immer wieder versucht, sich am Reck hochzuziehen. Die Kinder wünschen sich Klettergeräte mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Während die erste Stufe noch von allen Kindern erreicht werden kann, wird es mit jeder Stufe zunehmend schwieriger.
Kinder wünschen sich Rückzugsorte, sie wollen sich gerne hinter Spielgeräten verstecken können. Auf Spielplätzen, die ausschließlich mit Sand unterlegt sind, geht dieser Wunsch für Kinder mit Mobilitätseinschränkung leider nie in Erfüllung.
Ist es überhaupt möglich, alle Bedürfnisse unter einen Hut zu kriegen?
Natürlich wird man keinen Spielplatz bauen können, der auf alle Personen und alle Arten von Beeinträchtigungen passt und mit dem alle hundertprozentig zufrieden sind. Aber man kann trotzdem Vielseitigkeit denken. Selbstverständlich sollen auch mobile Kinder Spaß haben und genügend Herausforderungen finden. Es macht keinen Sinn, langweilige Spielplätze zu bauen, wo man mit dem Rollstuhl drauffahren kann. Zumal nicht alle im Rollstuhl sitzen. Die von uns beobachteten Kindern waren visuell, kognitiv und motorisch beeinträchtigt.
Wir sagen, es wäre toll, wenn ein inklusiver Spielplatz zu 70 Prozent erreichbar und nutzbar von Menschen mit und ohne Behinderungen ist. Spielplätze sollten daher verschieden gestaltet sein und unterschiedliche Spielmöglichkeiten für einen Großteil der Nutzerinnen und Nutzer bereithalten.
Wie könnten inklusive Spielplätze denn konkret aussehen?
Ein Sand- und Wasserspielbereich lässt sich beispielsweise separat anlegen und die Zuwege so gestalten, dass alle Kinder, ob mit oder ohne Einschränkung dort hingelangen.
Unter den einzelnen Spielgeräten könnte weniger Sand, dafür öfter befahrbares Fallschutzmaterial zum Einsatz kommen. Spielgeräte sollten insgesamt vielseitiger nutzbar sein, verschiedene Aufgänge, Ebene anbieten. Zum Beispiel könnte eine Rutsche auf der einen Seite per Kletternetz und auf der anderen Seite vielleicht eher über eine schiefe Ebene erklommen werden. Geräte sollten zum variablen Spielen anregen. Die Öffnung der Spielgeräte – Stichwort: universal design – ist ein wichtiges Kriterium für inklusives Spiel.
Auch die Orientierung ist wichtig. Für Menschen mit Sehbehinderungen ließen sich Striche auf dem Boden für die Wegeführungen ergänzen, so dass diese sich besser zurechtfinden. Hier sind übrigens Holzmaterialien schwierig wegen der Kontrastarmut. Farbige Flächen würden die Orientierung erleichtern. Außerdem gibt es akustische Spielelemente. Ich glaube allerdings, nicht nur die Spielgeräte sind entscheidend, sondern es ist an der Zeit generell umzudenken.
Ich wünsche mir, dass noch mehr begreifen, dass es bei der Spielplatzgestaltung immer auch um Inklusion geht, nicht nur um Sicherheit, Unterhalt oder eine optisch schöne Gestaltung.
Prof. Dr. Schulze
Inwiefern ist ein Umdenken erforderlich?
Ich meine, dass die Gesellschaft sich verändern muss. Es muss noch mehr Leute so wie Sie geben, die sich dem Thema widmen und ins Zentrum stellen. Ich wünsche mir, dass noch mehr begreifen, dass es bei der Spielplatzgestaltung immer auch um Inklusion geht, nicht nur um Sicherheit, Unterhalt oder eine optisch schöne Gestaltung. Planer und Gestalter sollten sich noch bewusster machen: Es gibt verschiedene Nutzergruppen mit verschiedenen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Die gilt es anzuhören und zu berücksichtigen und nach dem bestmöglichen Kompromiss zu suchen. Es sollte selbstverständlicher sein, sich zu überlegen: gibt es noch einen Weg oder ein Gerät, das mehr Spielmöglichkeiten zulässt?
Wie trägt ihre Forschungsarbeit dazu bei, aus einem Spielplatz einen Ort der Begegnung für alle zu machen?
Wir wollen mit unserer Forschung mehr Bewusstsein für Diversität schaffen. Aus unseren ersten Ergebnissen haben wir weitere Forschungsfragen zum Thema Spiel abgeleitet. Wir nehmen an, dass ein Spielplatz inklusiv ist, wenn ca. 70 bis 80 Prozent der Geräte nach den Prinzipien des „universal design“ gestaltet sind. In unseren weiterführenden Studien werden wir nun überprüfen, ob diese Annahme stimmt und inwieweit die Anwendung der universal design Prinzipien dazu beiträgt, dass der Spielplatz einen höheren Mehrwert für viele bekommt. Das Spiel muss weiter untersucht werden und sollte in der Gesellschaft eine zentralere Rolle bekommen.
In Teil 2 des Forschungsprojektes befragten die ZHAW-Forscherinnen Fachleute, die sich mit der Gestaltung von Spielplätzen beschäftigen. Diese Ergebnisse der Fokusgruppen werden im Laufe von 2021 publiziert. Wir sind gespannt und bleiben dran. Vielen Dank für Ihre spannenden Einblicke, Frau Prof. Dr. Schulze.
Wie sind eure Erfahrungen mit Inklusion? Gibt es in eurer Stadt, eurer Gemeinde bereits barrierefreie Spielplätze?
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