Spielfreude und Spielrisiko? – Auf den meisten Spielplätzen Fehlanzeige! Unsere Spielplätze sind zu sicher und das ist schädlich für die kindliche Entwicklung, denn Kinder fühlen sich unterfordert, nicht motiviert und wenden sich ab. Das wollten wir genauer wissen…
Dr. Dieter Breithecker setzt sich in seiner Arbeit als Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. u.a. für bewegungsfördernde Spielplätze ein.
Herr Dr. Breithecker, wie viel Bewegung brauchen Kinder am Tag?
Dr. Breithecker: Kinder brauchen ein Minimum von zwei Stunden Bewegung am Tag. Damit sind alltagsmotorische Handlungen gemeint, die u. a. den selbst gegangenen Weg zur Schule, das Fahrradfahren, das Toben und Spielen mit anderen, das spontane Rennen, Klettern, Balancieren und „Kicken“ auf dem Bolzplatz oder der Straße beinhalten. Bewegung ist häufig spontan und intuitiv und das ist gut so. Es muss nicht immer die organisierte Bewegung sein. Zu den zwei Stunden sollten dann noch zwei bis drei Stunden Sport in der Woche dazu kommen. Hier bietet der Vereinssport ausreichende Angebote.
Ein ziemliches Pensum für „Bewegungsmuffel“…
Es gibt natürlich Kinder, die haben ein größeres Bedürfnis sich zu bewegen und Kinder mit einem geringen Bedürfnis sich zu bewegen. Aber Kinder werden nicht von alleine zum Bewegungsmuffel. Wir können Kinder auch zu einem solchen sozialisieren. Zum einen durch wenig kindgerechte Angebote. Zum anderen, wenn ich einem Kind immer wieder sage: „Sitz doch mal still!“, „Mach dich nicht schmutzig!“, „Zappele nicht so herum!“ und „Nein, dass darfst du nicht, das ist zu gefährlich!“. Mit diesen meist aus Fürsorge getätigten Aussagen trainieren wir den Kindern den Bewegungsbedarf ab. Eltern und Pädagogen sollten wissen, dass es auf die ersten Jahre, also schon ab dem Kleinkindalter darauf ankommt, welche Bewegungssozialisation und damit gesunden Entwicklungsverlauf das Kind erfährt.
Warum bewegen sich Kinder in der Regel so viel mehr als Erwachsene?
Für Kinder hat die Bewegung eine andere Bedeutung als für uns Erwachsene. Wir sagen: Wenn ich mich bewege, dann sind gesundheitliche Ziele oder die Fitness der Beweggrund. Gesundheit oder Fitness sind aber für ein Kind zweit-, wenn nicht drittrangig. Der primäre Antrieb für Kinder, sich zu bewegen, ist, dass sie spielen wollen. Sie wollen, gemeinsam mit anderen, Spaß haben, sie wollen ihre Neugierde befriedigen und die Welt entdecken und erkunden. Sie wollen die Dinge anfassen, verändern, kreativ mit ihnen umgehen und Grenzen austesten können.
Man kann das sehr gut beobachten wenn Kinder an einem Bachlauf spielen und mit Wasser und Steinen beharrlich ihre eigenen Spielideen verwirklichen. Sie erkunden, probieren aus und experimentieren – und alles wird mit körperlichem Einsatz bewältigt. In solchen Situationen gehen Kinder auch häufig bis an ihr persönliches Limit. Dadurch lernen sie, wo ihre Grenzen liegen.
Auch beim Klettern wird das sichtbar. Kinder müssen klettern und sie klettern gerne in die Höhe. Dabei „tasten“ sie sich „Schritt für Schritt“ an ihre Grenzen heran, ohne sich dabei tatsächlich ernsthaft in Gefahr zu begeben. Bewegung steht immer auch mit emotionalem Erlebnis in Verbindung. Es muss „unter die Haut“ gehen. Das ist für den Spielwert und die daran geknüpften Entwicklungspotentiale ganz entscheidend.
Spielräume sind für die Entwicklung nur dann nachhaltig, also gehen „unter die Haut“, wenn Kinder vielfältige Erfahrung mit dem ganzen Körper, mit all ihren Sinnen und unter emotionaler Beteiligung machen können.
Gehen deutsche Spielplätze tatsächlich „unter die Haut“?
Leider nicht viele. Dabei ist es für den Entwicklungsprozess sehr nachteilig, wenn Spielgeräte Kinder unterfordern, in ihrer Ausgestaltung zu fertig und nicht veränderbar sind. Die meisten Spielgeräte sind darüber hinaus so konstruiert, dass der Übersicherungsaspekt dem kindlichen Bedarf nach Wagnis und Risiko kaum Raum bietet. Diese Spielgeräte haben keinen Aufforderungscharakter, sie wecken nicht die Neugier der Kinder. Mit dem Effekt, dass Kinder sich schnell abwenden.
Warum gelingt es oft nicht, Spielplätze den kindlichen Bedürfnissen anzupassen?
Wer Kinder überbehütet raubt ihnen Lebensfreude, Selbstbewusstsein und die Chancen Krisen meistern zu lernen.
Dr. Dieter Breithecker
Erwachsene konzipieren Spielgeräte und Spielplätze nach ihren Vorstellungen wie sich Kinder sicher und vor allem gefahrlos bewegen sollten, damit nichts passiert. Es werden alle möglichen theoretischen Risiken von Unfällen bedacht. Dadurch werden diese Angebote oft langweilig. Diese Sicherheit ist dazu noch ein Fantasieprodukt, ohne Realitäts- und Lebensbezug. Mit den Maßnahmen der Übersicherung steigt auch die Zahl der Kinder, die therapeutische Hilfe benötigen. Wer Kinder überbehütet raubt ihnen Lebensfreude, Selbstbewusstsein und die Chancen Krisen meistern zu lernen. Es ist also ein Risiko, wenn es kein Risiko mehr beim Spielen gibt.
Kinder verlieren schnell die Lust und die für die Reifungsprozesse erforderlichen Förderreize bleiben aus. Spielplätze müssen zwar Gefahren ausschließen, aber sie dürfen nicht übersichern und müssen Raum zum Erkunden und Entdecken bieten. Es ist ein von Neugier geleitetes Grundbedürfnis der Kinder, sich immer wieder an eine vorerst unberechenbare Herausforderung heranzutasten. Dieses Spiel mit Risiko ist essentiell weil dadurch elementare Kernkompetenzen so „ganz nebenbei“ erworben werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. (BAG) setzt sich als gemeinnützig anerkannter Verein dafür ein, die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bewegungsfreundlicher zu gestalten. Dabei geht es sowohl um mehr Bewegung im Alltag als auch um gezielte Gesundheitskonzepte. Die BAG will damit dazu beitragen, dass sich die körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Ressourcen des Menschen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen optimal über Bewegung entfaltet werden können.
Welche Kernkompetenzen meinen Sie?
Ein über Bewegungskönnen gesteigertes Selbstkonzept wirkt sich positiv auf den Erwerb grundlegender Kernkompetenzen wie Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Risikobewertung sowie Selbstsicherungsfähigkeit aus. Diese haben dann auch einen positiven Transfer auf andere Lebensbereiche. Kinder brauchen immer wieder das Gefühl, es gerade geschafft und ihre Ängste überwunden zu haben.
Ein Kind muss sich beispielsweise selbst sichern lernen und darf nicht durch andere gesichert werden. Es hilft also nicht, wenn Papa oder Mama ihren Sprössling auf ein Spielgerät heben und oben festhalten. Das Kind muss lernen, selbst hochzuklettern und einzuschätzen, wie hoch es sich wagt, um nicht runterzufallen. Kinder erforschen ihre Umgebung schrittweise, und nur ganz wenige Kinder klettern gleich beim ersten Mal bis ganz hinauf. Kinder verfügen über eine angemessene Selbsteinschätzung. Sie wollen besser werden und die eigenen Fortschritte selbst wahrnehmen.
Ganz wichtig ist auch die eigene Risikobewertung. Dies bezeichnet die Fähigkeit, sich mit grenzwertigen Situationen handelnd auseinanderzusetzen und für sich selbst die Entscheidung zu treffen, das Risiko einzugehen oder es nicht zu tun. Demzufolge sollten Kinder unbedingt die Chance haben, zum Beispiel über einen Baumstamm zu balancieren, der einen Bachlauf überquert. Die Option des Reinfallens haben sie eingepreist. Nass und schmutzig werden und vielleicht Schürfwunden davon tragen auch. Aber die gewonnenen Erfahrungen heben diese Risikofaktoren auf.
Also sollte ein Spielplatz Gefahren bereithalten?
Gefahren nicht, aber wie bereits erwähnt Wagnis und Risiko. Aber lassen sich mich ein wenig ausholen… Vor tausenden von Jahren haben wir Menschen in Lebenssituationen gelebt, wo jeden Tag Herausforderungen zum Tragen kamen, die unser Verhalten und insbesondere die Entwicklungsprozesse von Kindern heute noch prägen. Grundtätigkeiten wie Klettern, Balancieren, Hangeln, Springen, Rennen, sich mit grenzwertigen Situationen auseinandersetzen, Gefahren überstehen, sich selbst sichern, um zu „überleben“ sind auch heute noch wichtige Handlungen, die eine gesunde körperliche, geistige und emotionale Entwicklung von Kindern prägen.
Es ist das genetische Erbe welches Kinder ausleben müssen. Dies war in meiner Kindheit, ich wurde 1953 geboren, auch noch ausreichend so gegeben. Der Bewegungsalltag sieht heute, trotz dieser Erkenntnisse, nicht selten ernüchternd aus. Es mangelt an kindgerechten „Erkundungsräumen“ die Kindern ermöglichen, ohne Überwachung und Kontrolle, Bewegungsprobleme zu entdecken und an deren Lösung zu wachsen. Es sind meist die Erwachsenen, die das komplette Umfeld der Kinder sicher gestalten und bestimmen.
Durch die übertriebene Sicherheit wird’s gefährlich?
Durchaus. Wir dürfen Kinder nicht in ständiger Sicherheit wiegen. Die meisten Unfälle geschehen, weil keine Gefahrenquellen gesehen wurden. Die Risiken des Lebens müssen für Kinder auch in Zeiten der Normen und der oftmals überbesorgten Erziehungsverantwortlichen erlebbar, erlernbar und damit beherrschbar sein.
Natürlich leben wir heute nicht mehr in der Steinzeit und auf eine Begegnung mit den Säbelzahntigern können wir auch verzichten. Aber Kinder brauchen für ein gesundes Heranwachsen vielseitige Herausforderungen. Da Erwachsene ihre Kinder allerdings kaum noch unbeaufsichtigt in den nächstgelegenen Wald gehen lassen, bleiben für diese heutzutage überwiegend die Spielplätze. Spielfreude und Spielrisiko sind dabei allerdings zu häufig Opfer einer durch Normen und analoge Konstrukte langweilig gestalteten Bewegungswelt.
Aber die Sicherheitsnormen auf Spielplätzen müssen eingehalten werden…
Normen sind aber kein ausschließliches Gebot. Sie als Empfehlungen angemessen auszulegen, ohne die Sicherheit der Kinder zu gefährden, verlangt aber eigene Sicherheit in der kompetenten Anwendung. Wer sich als Entscheidungsträger unsicher fühlt, sollte sich an professionelle und seriöse Sicherheitsfachkräfte wenden, die den Spielraum hinsichtlich „Risk and Benefit“ bewerten und beraten.
Es muss uns immer bewusst sein, die wahren Experten für Spielgeräte sind eigentlich die Kinder. Das heißt, Spielraumplaner müssen in ihrer verantwortlichen Planung, in dem sie Gefahren, die das Kind aufgrund seines Alters noch nicht erkennen kann ausschließen, immer auch über die Bedürfnisse eines Kindes informiert sein.
Das Kredo für Spielraumplaner sollte also lauten: Motivation zur Bewegung?
Ja, denn Kinder brauchen Spielräume, die sie zu vielseitigen Bewegungen verführen und dafür sorgen dass sich Bewegung für Kinder lohnt: „Ich habe es geschafft!“. Sie brauchen Spielräume, in denen sie ihre Stärken entdecken und entfalten können, ihre Fantasie und ihre eigenen Lösungsmöglichkeiten einbringen können. Und sie brauchen Spielräume, in denen sie sich selbst bewegen, anstatt bewegt zu werden.
Ihr Qualitätssiegel soll mehr „Bewegung“ in Spielplätze bringen… Wie funktioniert das?
Um für den Verbraucher mehr Transparenz zu schaffen, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. (BAG) in Kooperation mit der Initiative „Bewegte Schule – Gesunde Schule“ Niedersachsen bereits 2008 das Qualitätssiegel „besonders entwicklungsfördernd“ ins Leben gerufen. Produkte und Konzepte mit besonders entwicklungsanregender Wirkung können sich auf Basis festgelegter Qualitätskriterien zertifizieren lassen.
Dieses Qualitätssiegel tragen nur Spielgeräte, die Kinder in besonders hohem Maße zu Spiel und Bewegung anregen, sich durch einen hohen Aufforderungscharakter auszeichnen und den Kindern Möglichkeiten für Experimente und eigene Aktivität lassen. Auch die Herstellerfirmen dieser Geräte erklären sich bereit, das Produkt mit einem dazu passenden Konzept zu begleiten, damit auch verstanden wird, worum es geht.
Wie treffen Sie die Auswahl, ob ein Gerät zertifiziert wird oder nicht?
Warum sind, trotz Ihres Qualitätssiegels, immer noch die wenigsten Spielplätze „besonders entwicklungsfördernd“?
Das Entscheidende ist: Landschaftsgärtner/-architekten, Beschaffer, Einrichter und auch Pädagogen müssen mehr Kenntnis über die sensitiven Entwicklungsprozesse von Kindern und ihre Förderung durch besondere Bewegungsqualitäten gewinnen. Und es ist wichtig, dass sich alle Beteiligten darauf einlassen ihr Handeln zu reflektieren. Zum einen im eigenen behütenden Umgang mit den Kindern und zum anderen im Hinblick auf die bewegungsfördernde Konzeption eines Spielraums.
Das ist nicht so einfach…
Leider nicht. Denn die handelnden Personen sind bestimmten formalen Restriktionen unterworfen. Das heißt, es gibt Normen und analoge Vorgaben. Umso wichtiger ist es, dass zum einen das Wissen ob der wichtigen Entwicklungsprozesse der Kinder vorhanden ist. Zum anderen sind Normen nicht per se verbindlich, es handelt sich dabei um Empfehlungen, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand meist um Jahre hinterherhinken.
Hier gilt es die richtige Balance zu finden, damit dem gesellschaftlichen Anliegen nach Bildung und Gesundheit für unsere Kinder Rechnung getragen wird. Dies verlangt nach mehr Experten. Wir brauchen kompetente Fachleute, die nicht nur auf bestehende Normen achten, sondern vor Ort analysieren, ob vor allem der Aspekt Sicherheit gewährleistet ist. Zu empfehlen sind hier die Fachkräfte für den sicheren Kinderspielplatz der regionalen TÜV Verbände.
Was ist mit unser aller Sorge, dass doch etwas passiert?
In der Tat, über allem steht die Angst, dass etwas passieren kann. Und das Damoklesschwert der Haftung ist ständig gegenwärtig. Wenn wirklich das „Worst Case“ Szenarium eintritt, ist der Ruf nach dem Schuldigen und seiner Bestrafung sofort da. Hier sind wir alle gefordert: Eltern, Juristen, Pädagogen mit mehr Maß und Verantwortung zu urteilen und abzuwägen, ob ein beispielsweise „harmloser Unfall“ wie ein Gliedmaßenbruch beim Sturz nicht doch in einem positiven Verhältnis zu den damit gewonnenen Erfahrungen steht.
Vielen Dank, Herr Dr. Breithecker für dieses interessante Gespräch.
Das könnte dich auch interessieren:
SPIELEN BRAUCHT RISIKO – Für mehr Mut und Risikofreude bei der Spielplatzgestaltung.
LETZTE KOMMENTARE