Immer mehr Kinder ekeln sich vor Regenwürmern, kennen keine einheimischen Pflanzen und wenn sie die Wahl haben, hocken sie lieber drinnen und daddeln am Tablet. Warum Eltern gegen diesen Trend angehen sollten und warum wir unbedingt mehr „Umwelt brauchen, die ein bisschen wild ist“, verrät Biologe und Ökopsychologe Prof. em. Dr. Norbert Jung in diesem Interview.


Prof. Dr. Norbert Jung

Prof. em. Dr. Norbert Jung ist Biologe und Ökopsychologe und lehrt auch im Ruhestand noch zum Thema Naturerfahrung und Umweltengagement an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde.


Herr Prof. Dr. Jung, daddeln Kinder heute wirklich lieber am Tablet anstatt draußen zu spielen?

Prof. em. Dr. Norbert Jung: Die mediale Spielewelt ist eine starke Konkurrenz, das muss man schon sagen. Und klar ist auch: der Mensch ist bequem. Er macht nur das, was mit wenig Aufwand scheinbar viel Wirkung bringt und die Neugier ohne Mühe beschäftigt. Es muss ihn stets etwas motivieren, und das sind leicht erfüllbare Motivationen. Die Verlockungen der digitalen Welt scheinen verheißungsvoll. Wofür, darüber wird nicht nachgedacht. Übrigens gilt das für Erwachsene gleichermaßen wie für Kinder.

Doch klar ist auch: Verantwortungsvolle Eltern sollten ein bisschen weiterdenken und sich fragen: Was braucht mein Kind wirklich, um gesund aufzuwachsen und Persönlichkeit zu werden? Und das ist definitiv kein Computerspiel, sondern neben sozialen Erfahrungen die Natur. Kinder brauchen ein Quantum an Natur für die gesunde Entwicklung, das weiß man heute.

Das heißt: Raus mit den Kindern, auch wenn sie keine Lust auf Natur haben?!

Digitale Medien üben bereits auf junge Kinder eine große Faszination aus. Foto: Nadine Doerle/pixabay

Das stimmt ja nicht, dass Kinder keine Lust haben. Kinder haben Bock auf Natur! Wenn man Kinder von klein auf wirklich lässt und ihnen die Zeit gibt, um die Möglichkeiten für sich zu entdecken, dann gehen sie los, wie eine Rakete und sind aus der Natur gar nicht mehr wegzukriegen, auch das wurde bereits erforscht. Bei ganz kleinen Kindern kann man das in jedem Park beobachten und verschiedene Untersuchungen belegen das. Eine Untersuchung aus Nordrhein-Westphalen von 2005 zeigt aber auch: je öfter Kinder draußen sind, umso öfter wollen sie draußen sein. Wenn sich Kinder hingegen zu selten, also weniger als ein Mal die Woche oder gar pro Monat draußen aufhalten, bleiben sie lieber drinnen.

Vor allem, wenn Eltern selbst Stubenhocker sind?

Welchen Zugang Kinder zur Natur finden, hängt tatsächlich sehr stark von den Eltern oder auch anderen Bindungs- und Vertrauenspersonen ab. Das sind nicht selten die Großeltern und andere Verwandte oder Freunde der Familie. Wo Kinder hingehen, was sie tun, ist gekoppelt an die Gewohnheiten und Vorlieben ihrer Eltern, und auch, wie diese sich über Natur äußern. Eltern denken oft, sie müssten ihre Kinder „bespaßen“. Also gehen sie mit ihnen in ein Freizeitcenter mit Hüpfburg und allem Pipapo. Auf andere Ideen kommen sie leider oft gar nicht mehr.

Vielleicht, weil viele Eltern es auch nicht anders kennen?

Das stimmt. Insofern kann man die Eltern auch verstehen: Sie sind selbst so erzogen worden und hatten vielleicht nicht die Möglichkeiten, die sie gerne gehabt hätten. Wir haben es inzwischen mit Kindern zu tun, die bezüglich der Naturentfremdung in mindestens der dritten oder vierten Generation leben. Aber man kann es ja besser machen.

Und dazu gehört auch, wenn Kinder draußen spielen, sie nicht ständig zu kontrollieren, zu erziehen oder sie mit Regeln und Verboten zu belegen: „Du darfst dies nicht, du darfst das nicht! Geh nicht alleine! Renn nicht so schnell! Igitt, fass das nicht an! Sei vorsichtig! Geh nicht so nah ran!“ Dadurch trauen sich Kinder von alleine nichts mehr zu oder fangen an, sich vor der Natur zu ekeln, fassen Regenwürmer und Schnecken nicht an und haben plötzlich Sorge, sich dreckig zu machen und können so keine Erfahrungen sammeln.

Und dazu gehört auch, wenn Kinder draußen spielen, sie nicht ständig zu kontrollieren, zu erziehen oder sie mit Regeln und Verboten zu belegen: „Du darfst dies nicht, du darfst das nicht! Geh nicht alleine! Renn nicht so schnell! Igitt, fass das nicht an! Sei vorsichtig! Geh nicht so nah ran!“ Dadurch trauen sich Kinder von alleine nichts mehr zu oder fangen an, sich vor der Natur zu ekeln, fassen Regenwürmer und Schnecken nicht an und haben plötzlich Sorge, sich dreckig zu machen und können so keine Erfahrungen sammeln.

Was passiert mit Kindern, die nicht rausgehen?

Je weniger Naturerfahrungen Kinder sammeln, umso unsicherer werden sie natürlich im Umgang mit der Natur – und auch mit ihrem Körper, ihrer Sprache, ihrem Sozialverhalten. Dass z. B. die Körpergeschicklichkeit bei Schulkindern in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, wissen viele Sportlehrer.

Umgebung, Pflanzen und Tiere erscheinen Kindern dann fremd und sie fühlen sich draußen unwohl. Dadurch entgehen ihnen Möglichkeiten, mit neuer Umgebung, neuen Dingen umzugehen, knifflige Probleme im Ernstfall zu lösen (z. B. eine Hütte zu bauen, erfolgreich auf einen Baum zu klettern etc.). Das sind die Situationen, die die Klugheit, das Denkvermögen, Sprechfähigkeit und Gemeinschaftlichkeit deutlich fördern. Kinder brauchen also Gelegenheiten mit Natur in Kontakt zu treten und Eltern sollten ihnen dringend diese Gelegenheiten ermöglichen.

Guter Ansatz. Allerdings ist die Natur häufig nicht um die Ecke und es fehlen spannende Draußen-Spielorte.

Das ist in großen Innenstädten wohl das größte Problem. Ich bin damals in einer Kleinstadt 200 Meter vom Wald entfernt aufgewachsen. Wir brauchten bloß um die Ecke und schon waren wir im Wald. Luxusverhältnisse aus heutiger Sicht.

Kletterbaum
Dieser Kletterbaum direkt neben dem Wasserspielplatz in Köln-Nippes ist sehr beliebt. Foto: Schilling

Daher sollte man den Stadtplanern zurufen: Leute, so geht das nicht weiter! Baut bitte so, dass grüne Höfe entstehen, dass Büsche und Bäume wachsen. Die müssen nicht geschniegelt sein, sondern robust, weil Kinder sich verstecken und auch mal auf einen Baum klettern wollen. Kinder möchten am liebsten unbeobachtet spielen und ihr eigenes Ding machen. Und zwar dort, wo sie wohnen. Auch klassische Spielplätze sind dafür nicht ideal.

Was haben Sie gegen klassische Spielplätze?

Spielplätze bringen aus meiner Sicht nicht viel es sind notwendige Notlösungen. Schnell entsteht dort Langeweile, weil Kinder schon alles kennen und es für sie dort nichts zu entdecken gibt. Zudem ist bekannt, dass auf solchen Spielgeräte-Plätzen schwerere Unfälle passieren, als in der Natur – z. B. weil Eltern ihre Kinder auf Spielgeräte hochheben, obwohl diese noch nicht mal sicher über den Boden balancieren können.

Wobei die Qualität von Spielplätzen sehr unterschiedlich ist…

Natürlich machen es manche Spielplatzgestalter inzwischen schon ganz geschickt und bauen Spielplätze mit Herausforderungen. Aber ein Spielplatz ist vergleichsweise teuer und nicht unbedingt nötig. Kinder sind nach allen bekannten Studien in der Natur wesentlich erfinderischer als auf geplanten Spielplätzen, probieren schrittweise alles selbst aus, weil sie mit dem Neuen umgehen müssen. Sie erfinden ihre eigenen komplexen Spiele, die es vorher nicht gegeben hat.

Brauchen wir mehr Naturerfahrungsräume in der Stadt?

Naturerfahrungsräume in der Stadt sind toll und es ist gut, dass wir schon einige haben. Aber leider wohnen in Großstädten Kinder auch da manchmal zu weit weg. Die beste Lösung in einer Stadt ist eine interessant gebaute, grüne Umwelt, die auch ein bisschen wild ist und in der gespielt werden kann (nicht nur Fußball!). Da muss man sich dann auch mal gegen konventionelle Prinzipien der Stadtgrünplanung und für unsere Kinder entscheiden. Große Naturflächen könnten umgewidmet werden, damit sie von Kindern betreten und genutzt werden dürften (Aber nicht gerade wertvolle Naturschutzgebiete!).

Und ganz wichtig: Die Stadtplaner könnten unbedingt etwas risikofreudiger werden. Es sollten Bäume zum Klettern da sein, Äste, an denen Kinder schwingen können, Wasser, unterschiedliche Gelände, etwas zum Verstecken. Das lieben Kinder und das brauchen sie, um sich zu entfalten. Und wenn kein Park da ist, dann könnte doch vielleicht ein Stück einer Straße zur Spielstraße werden, wenn man dort Büsche und Bäume pflanzt. Das Prinzip ‚Erst der Mensch, dann das Auto‘ sollte auch hier Fuß fassen. Besser mal klein anfangen als gar nicht. Eltern sollten sich für derartige Entwicklungen stark machen und mit ihren Kindern mehr rausgehen.


Entdecke mehr Naturerfahrungsräume mitten in der Stadt auf Spielplatztreff.de

Foto: ©Konstantin Börner


Sie haben mir erzählt, wenn Kinder am Computer spielen, langweilt sich ihr Gehirn, wenn sie draußen spielen nicht. Wie meinen Sie das?

Computerspiele können in keiner Weise die Vielfalt der klug machenden Erfahrungen in der Natur ersetzen. Digitalisierung engt Persönlichkeitsbildung auf wenige Fähigkeiten ein. Unser Gehirn stammt nun einmal aus der Natur, und Natur ist Raum und kein Bildschirm. Naturerfahrung ist etwas Urmenschliches und wird es bleiben.

Das Selbstverständlichste machen wir uns gar nicht klar: In der digitalen Welt starren wir auf ein zweidimensionales Bild und halten das für die Wirklichkeit. Wir bewegen uns nicht, wir fühlen nicht, wir agieren nicht mit allen Sinnen, sondern wir tippen nur mit Fingern. Wir sind – vereinfacht gesagt, nur Auge und Finger, nicht ganzer Mensch. Das widerspricht auf Dauer unseren menschlichen Bedürfnissen. Denn wir sind Primaten und kommen mit bestimmten Voreinstellungen auf die Welt, die unser Menschsein ausmachen. Wir sind darauf angepasst, unsere Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen und uns zu bewegen. Nicht umsonst haben wir so lange Beine.

Kindern, die nur noch am Smartphone oder Tablet hängen, fehlt die Vielfalt der geistigen und körperlichen Anregungen. Nichts kann diese so gut bieten, wie die Natur. Wenn wir in der Natur sind, werden fast alle Hirnregionen aktiv, wie die Neurobiologie weiß. Das heißt, viele Bereiche unseres Gehirns werden gleichzeitig beschäftigt und nicht, wie bei zielorientierter Arbeit, nur einige wenige. Gerade bei der digitalen Arbeit werden nur bestimmte Bereiche aktiviert und dadurch einerseits trainiert, aber auch teilweise infolge der Einseitigkeit überfordert, weil andere Zentren inzwischen pennen. Viele Fähigkeiten des Gehirns liegen tatenlos auf der Couch, wenn Kinder online daddeln.

Sie sagen, nicht nur Computer, sondern auch Frühförderung könnten sich Eltern sparen, wenn sie auf die Natur setzen…

Eltern versuchen in der Tat zu kompensieren, folgen den kulturellen Einflüsterungen und schicken ihre Kinder in möglichst vielfältige Förderungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Kinder sollen musizieren, turnen, reiten, fliegen… am liebsten sollen sie alles können und das so früh wie möglich. Aus den Kindern sollen am besten Universal-Genies werden, was ja eben bis auf wenige Ausnahmefälle nicht passieren wird. Durch diese ängstliche Haltung, dass das Kind nicht gut genug wäre, geschieht genau das Gegenteil. Eltern erkennen nicht, dass man sich vieles sparen kann, wenn man Kinder in die Natur lässt. Wir Menschen sind und bleiben Naturwesen, und durch die Natur werden wir menschlich.

Das bedeutet, je weiter wir uns von unserer eigenen Natur entfernen, umso schwieriger wird es für uns?

Genau. Denn durch schwere Nichterfüllung psychologischer Bedürfnisse werden wir Menschen auf Dauer psychisch krank. Das wissen wir aus der Psychotherapie. Überforderung, Burnout und Depressionen nehmen zu, jeder Dritte, so sagen Studien, ist psychisch behandlungsbedürftig. Auch Menschen mit einer ICH-Störung gibt es häufiger. Diese Menschen haben unbewusste Ängste vor innerer Leere. Sie brauchen immer die Außenstärkung und Außenorientierung für die eigene Stabilisierung. Eine Form davon ist übrigens der Narzissmus, der in der Gesellschaft grassiert. Krankheiten dieser Art treten auf durch die Art und Weise, wie wir leben.

Naturnahe Spielplätze schaffen Möglichkeiten für Naturerfahrung und laden zum Entdecken ein. Foto: Spielplatztreff.de

Also zurück zur Natur?!

Es sollte nicht heißen: Zurück zur Natur, sondern vorwärts zur Natur. Wir haben die Natur in uns ein Stück weit verloren. Das sollten wir uns wiederholen. Wir wussten früher schon, dass uns der Wald guttut. Jetzt gibt es glücklicherweise unzählige Bücher drüber und die Literatur über die psychische Gesundheitswirkung des Waldes ist beeindruckend. Die Japaner haben schon seit langem das Waldbaden erfunden und Menschen sehnen sich nach einem Leben mit mehr Achtsamkeit und Entschleunigung. Dabei kann der Wald helfen.

Wir wissen durch Untersuchungen, dass sich schon nach 10 Minuten Aufenthalt im Wald die physiologischen Parameter harmonisieren. Das heißt, der Hormonpegel geht in Richtung Ausgeglichenheit und wir fühlen uns deutlich weniger gehetzt. Ausnahmsweise folgt die Natur einem Rezept, das anders ist als bei allen Medikamenten, die der Mensch gemacht hat. In der Natur heißt es nämlich: mehr ist mehr und nicht weniger ist mehr. Man kann nicht genug kriegen von der Natur. Man kann nur wohltuend müde werden, niemals erschöpft wie in einer Großstadt.


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Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Prof. Dr. Jung!