Geschwister können sich ziemlich oft in die Haare kriegen und Eltern darüber verzweifeln. Denn tägliche Streitereien rauben enorm viel Kraft und Zeit und belasten mitunter das Familienklima. Das Buch „Geschwister als Team. Ideen für eine starke Familie“ von Erziehungsexpertin und Autorin Nicola Schmidt hilft, Streitigkeiten besser zu verstehen und zeigt uns Wege auf, in Streitsituationen richtig zu reagieren. Was das mit uns selbst und mit der Käfighaltung von Hühnern zu tun hat, erfahrt ihr in meinem Interview mit der Autorin.
Nicola, in deinem Buch habe ich gelesen, Geschwister streiten sich bis zu sechsmal in der Stunde. Warum tun sie das?
Nicola Schmidt: Das lässt sich auf den klassischen Kampf um Ressourcen zurückführen, den Geschwister aus Sicht der Evolutionswissenschaft seit Jahrtausenden führen. Während es früher dabei jedoch noch um ausreichend Nahrung und Sicherheit und damit um die Sicherstellung des eigenen Fortpflanzungserfolges ging, dreht sich heute der Zoff zwischen Geschwistern eher um Aufmerksamkeit und Zeit.
Wenn wir aber verstehen, was unsere Kinder brauchen und wie wir sie und uns selbst gut unterstützen können, dann gelingt es jedem von uns, seine Kinder zu einem Team werden zu lassen. Und darum geht es in meinem Buch „Geschwister als Team. Ideen für eine starke Familie“*, Kösel Verlag, 2018.
Nicola Schmidt ist Wissenschaftsjournalistin, Erziehungsexpertin und Autorin. Ihre zahlreichen Bücher werden von (hauptsächlich) Müttern geradezu verschlungen. Ihr neues Buch ist übrigens gerade erst im August 2019 beim GU Verlag erschienen und heißt: „ERZIEHEN OHNE SCHIMPFEN: Alltagsstrategien für eine artgerechte Erziehung“*.
Eines, was Kinder zum Beispiel brauchen, ist Zeit, um draußen zu spielen, zum Beispiel auf dem Spielplatz…
Zeit zum Spielen ist sehr wichtig. Ob auf dem Spielplatz oder in der Natur. Fakt ist: Geschwister streiten sich weniger, wenn sie draußen spielen, denn da ist der Stress am geringsten. Das ist wie bei Hühnern: in Käfighaltung gibt es einfach viel mehr Gehacke. Wenn wir ständig auf 90 m² in einer 3-Zimmerwohnung zusammenhocken, erzeugt das mehr soziale Reibung, als wenn wir draußen wären.
Draußen bewegen wir uns mehr, wir atmen tiefer, der Sauerstoffgehalt im Blut steigt, wir powern unseren Körper stärker aus. Wenn man also das Gefühl hat, jetzt entgleitet mir die Situation, dann besser nicht reflexartig jedes Kind in sein Zimmer schicken, sondern sagen: „So, ich packe jetzt das Essen ein und wir gehen raus.“ Das haben wir früher häufig gemacht. Es kann sehr viel entzerren. Und so ein gemeinsames Picknick auf dem Spielplatz oder im Wald hat etwas total Verbindendes.
Ab wann wird Geschwisterstreit zur Belastung?
Erst einmal ist Belastung ein individuelles Gefühl. Manche sagen: „Meine Kinder streiten dreimal am Tag und ich kriege die Krise!“ und andere sagen: „Die streiten dreimal in der Stunde, das finde ich okay.“ Es kommt also auch auf unsere eigene Stressresistenz an.
Aber Streit wird natürlich immer dann zur Belastung des Familien- und Bindungsgefüges, wenn er destruktiv ist. Wenn die Kinder sich gegenseitig mit Worten verletzen oder sogar mit Taten. Oder wenn der Tagesablauf nicht mehr stattfinden kann, weil die Kinder sich ständig in der Wolle haben, sich anschreien, brüllen, Sachen durch die Gegend werfen, usw. Wenn Streitereien ein solches Ausmaß annehmen, sollten Eltern unbedingt genauer hinsehen. Worum geht es in dem Streit wirklich? Oft streiten sich Kinder dann nämlich vordergründig um irgend etwas, aber eigentlich geht es um was ganz anderes.
Hast du ein Beispiel für solche gefährlichen Streitereien?
Wir hatten mal die Situation, dass unsere Tochter den ganzen Sonntagmorgen ihren Bruder geärgert hat. Jede Sekunde hat sie ihn gepiesackt und ich dachte, ich krieg die Krise. Dann habe ich mich irgendwann hingesetzt und gesagt: „So Leute, ich werde den Sonntag so nicht weitermachen. Was ist hier los?“ Nach einer halben Stunde Gespräch kam dann raus, dass meine Tochter total verletzt war, weil sich ihr großer Bruder schon wieder mit seinem Freund verabredet hat und sie so gerne mit ihm spielen wollte. Wenn ich da einfach nur gesagt hätte: „Jetzt seid ihr beide still, jetzt geht jeder in sein Zimmer und jetzt ist hier aber Ruhe!“, dann hätten die beiden das nie rausgefunden und es hätte wochenlang so weitergehen können. Und das ist das Gefährliche am Streiten, das kann den Familienfrieden enorm beeinträchtigen.
Deshalb sollten Eltern ihre Kinder beim Streiten begleiten?
Ja, unbedingt! Es ist wichtig, Streitigkeiten nicht runterzuspielen und zu sagen: „Ist doch nicht so schlimm, jetzt stell‘ dich nicht so an!“ Eltern müssen vielmehr lernen, die Bedürfnisse hinter den Streitigkeiten zu erkennen. Dinge, die aus Elternsicht vielleicht wie eine Lappalie erscheinen, können für Kinder in dem Moment sehr bedeutsam sein und große Dramen auslösen. Wenn sich Eltern auf die Situation einlassen und ihren Kindern rückmelden: „Ich sehe das Drama. Lass uns mal gemeinsam gucken, was da los ist, was jeder braucht und wie wir das regeln können.“, können sie mit den Kindern ins Gespräch kommen und sie durch den Streit coachen.
Eltern als Streit-Coaches? Das klingt ziemlich herausfordernd.
Am Anfang ist es ein bisschen wie eine neue Sprache lernen und tatsächlich braucht es zu Beginn etwas mehr Zeit, um herauszufinden, was tatsächlich hinter einem Streit liegt. Aber es geht nicht darum, immer perfekt zu reagieren und man muss auch nicht jeden Streit zwischen den Kindern „durchcoachen“.
Plötzlich ist man nicht mehr vor Gericht, sondern in der Familie. Das ist total schön.
Nicola Schmidt
Es reicht völlig, wenn wir jeden Tag ein bisschen mehr auf die Kinder eingehen, jeden Tag ein bisschen weniger vergleichen, jeden Tag ein bisschen weniger Schiedsrichter und mehr Vermittler sind: wer braucht was, wo ist das Problem, welche Bedürfnisse sind hier, welche Lösung können wir finden? Die Erfahrung zeigt, dass Kinder auf so etwas ganz stark anspringen und gerne mitmachen. Plötzlich ist man nicht mehr vor Gericht, sondern in der Familie. Das ist total schön. Am Ende dieses Prozesses, macht es das Leben so viel einfacher. Das dürfte Motivation genug sein. 🙂
Wie sollten Eltern reagieren, wenn sich ihre Kinder streiten?
- Ruhig bleiben. Wenn ich das bei meinen Vorträgen sage, lachen sich viele Eltern zwar immer kaputt und sagen: „Hahaha, soll das ein Scherz sein?! Die Kinder schmeißen sich die Duplo-Steine an den Kopf und ich soll da ruhig bleiben?“ Aber ganz ehrlich. So schwer es auch fällt, eins ist klar: ich kann die Kinder nicht runterregulieren, wenn ich selbst auf 180 bin. Hier hilft es, ein paar Mal tief ein- und auszuatmen.
- Gefahren verhindern. Kinder, die sich an den Haaren ziehen oder sich gegenseitig boxen oder treten, muss ich stoppen. Wir wollen ja alternative Strategien entwickeln.
- Zuhören und jeden erzählen lassen, was los ist. Wichtig ist dabei, dass jeder ausreden darf und dass das Gesagte nicht bewertet wird.
Damit sich jeder mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen fühlt?
Genau. Kinder sind erst dann in der Lage, Empathie zu lernen, wenn wir ihnen helfen, Streitsituationen transparent zu machen und ihnen erklären, wie es zum Streit gekommen ist: „Ich sehe, dass dir langweilig ist, Lilli. Aber schau mal, wenn du Adrian die Decke wegreißt, mit der er gerade eine Höhle bauen wollte, ist er sauer. Adrian, wenn du Lilli haust, dann weint sie, denn das tut ihr weh.“
Das machen wir im Prinzip in der Mediation mit Erwachsenen nicht anders. Empathie wecken, sichtbar machen… und dann müssen wir Lösungen finden. Wenn die Kinder noch klein sind, ist man häufig Teil der Lösung: „Adrian kann sich die Höhle bauen und mit Lilli gehe ich Pfannkuchen backen. Und dann können wir mal sehen, ob wir später zusammen in der Höhle die Pfannkuchen essen und was vorlesen.“ Bei großen Kindern kann man auch schon mal sagen: „Leute, ich muss jetzt Abendbrot machen, findet mal bitte gemeinsam eine Lösung.“
Wenn Kinder allerdings richtig wüten und schreien, ist meine Erfahrung, hilft leider alles Reden nix.
Das ist tatsächlich schwierig. Deshalb wäre es gut, es käme gar nicht erst dazu. Wichtig ist, zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn das Kind ausflippt. In solchen Momenten stellt das Gehirn nämlich auf Notfallmodus. Das heißt, der Bereich, der für den Verstand zuständig ist (der präfrontale Cortex), wird ausgeschaltet, weil er in der Notsituation zu langsam wäre. Dafür schaltet sich der so genannte Mandelkern im Gehirn ein und übernimmt die Kontrolle. Dadurch schießt Adrenalin ins Blut und setzt Kraft in den Muskeln frei. Eigentlich evolutionstechnisch in der Notfallsituation zum Wegrennen oder Kämpfen gedacht. Heute weiß man dann eben nicht wohin mit all der Kraft in den Muskeln und schmeißt schon mal Sachen, brüllt rum oder knallt mit den Türen.
Das sollten wir Kindern erklären und ihnen Wege aufzeigen, wie sie diese Energie wieder aus ihren Muskeln kriegen. Also nicht nur sagen: „Knall‘ nicht mit den Türen!“, sondern Alternativen vorschlagen: „Ich glaube, du wirst gerade wütend, komm‘ wir reiben mal ganz fest die Hände oder klopfen uns auf die Arme.“ oder „Jetzt renn‘ mal so schnell auf der Stelle wie du kannst!“ oder „Boxe kräftig in das Kissen hier!“. So helfen wir unseren Kindern ganz konkret, aus ihrem Stress rauszukommen.
Klingt wie Magie, es ist aber Biologie …
Tatsächlich ist es kein Hexenwerk. Menschen, das gilt ja für Erwachsene genauso, bei denen sich unter Wut der Verstand ausschaltet, müssen lernen, ihren Mandelkern wieder abzuschalten. Und dafür gibt es im Gehirn ein super System, was uns dabei hilft. Es kann nämlich nur entweder der Mandelkern ODER der Inselcortex eingeschaltet sein, der für die Körperwahrnehmung zuständig ist. Das heißt, in dem Moment, in dem man bewusst atmet, sich abklopft oder seine Hände reibt, schaltet der Körper den Inselkortex an, damit den Mandelkern aus und die Stressreaktion im Gehirn ebbt unmittelbar ab. Prima, wenn man das weiß, nicht wahr?! Denn dann fällt es uns leichter zu verstehen: Kinder können in so einer Stresssituation nicht kooperieren, auch wenn sie gerne wollen. Impulskontrolle unter Stress entwickelt sich relativ spät. Kinder lernen erst zwischen dem sechsten und 10. Lebensjahr zuverlässig ihre Impulse unter Stress zu kontrollieren. Einige lernen das von selbst und andere brauchen dabei unsere Unterstützung. Mit Kindern zu üben, wie sie unter Stress ihre Impulse kontrollieren, ist daher total sinnvoll.
Wie kann ich mir das bei euch zu Hause vorstellen? Streitest du dich nie mit deinen beiden Kindern?
Wir machen das hier auch nicht immer perfekt. Glaub mir, hier fliegen auch mal die Fetzen. Aber darum geht es nicht. Sondern es geht darum, dass wir dranbleiben, zuhören, unseren Kindern grundsätzlich alternative Verhaltensweisen vorleben und ihnen Strategien für den Umgang mit Stress- und Streitsituationen an die Hand geben. Mein Sohn stand gerne mal vor mir als wir das geübt haben, da war er ca. neun Jahre alt, und meinte: „Mama, du regst dich gleich auf, schnell atmen!“. Mein Sohn ist inzwischen 11, meine Tochter acht, sie haben nun drei Jahre Training hinter sich, und ich muss sagen, das hat sich in jedem Fall gelohnt.
Du gehst bei dem Training „artgerecht“ vor. Was ist damit gemeint?
Das Besondere am „artgerecht“-Ansatz: Er orientiert sich, losgelöst von kulturellen Aspekten, ausschließlich an der wissenschaftlichen Studienlage. Jede Kultur bringt andere Werte, Vorstellungen und Erziehungsstile mit. Jeder macht es anders und erstaunlicher Weise weiß jeder, wie es richtig ist. Für manche Eltern ist autoritäre Erziehung richtig, für manche spielt Religion eine große Rolle, bei anderen ist Höflichkeit bedeutsam, Kreativität oder Musik und wieder andere erziehen ihre Kinder extrem leistungsorientiert. Das ist zwar alles in Ordnung, aber aus unserer Sicht nicht das Optimale fürs Kind. Daher fragen wir ausschließlich: Was sagt die Wissenschaft, was grundsätzlich wichtig ist, um psychisch stabile, resiliente, krisenresistente, flexible, kreative, problemlösungsorientierte, gemeinschaftsfähige Persönlichkeiten zu entwickeln. Unter dem Label „artgerecht“ bieten wir Webinare und sogar Camps für Eltern an, um diese wissenschaftlich basierten Erkenntnisse weiterzugeben.
Inwiefern beeinflusst das Verhalten der Eltern den Geschwisterstreit?
In jedem Fall hilft es sehr, wenn Erwachsene achtsamer mit sich selbst umgehen und auch das eigene Verhalten hinterfragen. Wir sollten uns klar machen, dass Kinder uns immer spiegeln. Wenn ich dem Zweijährigen jedes Mal alles aus der Hand reiße, was er nicht in der Hand haben soll, dann wird es die große Schwester auch machen. Wenn die Kinder sehen, dass ich meinen Mann jedes Mal anschreie, wenn mir irgendwas nicht passt, dann ist klar, dass sie das spiegeln. Oder wenn ich meinen Kindern nie zu Ende zuhöre und sage: „Ich weiß genau, was du sagen willst, mir reicht’s!“ Dann werden sie das auch tun.
Es hilft, herauszufinden, was sind eigentlich meine eigenen Trigger-Punkte, an denen ich mich immer wieder ärgere. Es ist nicht schlimm, dass es diese Punkte gibt, denn viele von uns sind ja selbst unter Stress erzogen worden. Aber es ist wichtig, dort genauer hinzugucken und zu sehen, es gibt Verhaltensalternativen, die das Leben so viel einfacher machen. Dafür brauchen wir allerdings auch die Ruhe und die Kraft und deshalb müssen wir gut für uns sorgen.
Für sich selbst gut zu sorgen fällt besonders uns Müttern nicht leicht.
Ich weiß, dass es vielen Eltern, und vor allem Müttern, schwer fällt, auch mal an sich zu denken. Sie sind froh, wenn sie Arbeit und Kinder auf die Reihe kriegen. Selbstfürsorge ist da oft nicht mehr drin. Aber Eltern brauchen gesundes Essen, genügend Schlaf, ausreichend frische Luft und auch mal Auszeiten für sich, um Kraft- und Energiereserven aufzubauen. Studien zeigen: Wenn es der Mutter nicht gut geht, kippt in der Regel das Familiensystem. Deshalb sage ich meinen Müttern immer: „Ich weiß, dass ihr nicht egoistisch sein wollt. Aber euer Job ist es, dafür zu sorgen, dass es euch gut geht. Eure Kinder brauchen euch zufrieden und glücklich.“
Herzlichen Dank, Nicola Schmidt, für dieses spannende Interview!
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Titel-Foto: Geschwister als Team – draußen klappt das häufig besser als drinnen. Foto: Amy Elizabeth Quinn / pixabay
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